Rückblick auf die Tagung des "Netzwerk Nahtoderfahrung e.V." in Freckenhorst 2016
Thema der Tagung:
"Der Lebensrückblick in Nahtoderfahrungen – Hintergründe und ethische Impulse"
Vom 1.-3. Juli 2016 trafen sich über 80 Teilnehmer zur Jahrestagung, die dieses Jahr wieder in der Landesvolkshochschule Freckenhorst durchgeführt wurde. Im Anschluss an die Tagung fand die jährliche Mitgliederversammlung statt, bei der die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstands fast komplett neu besetzt wurden – darüber wird an anderer Stelle berichtet.
Prof. Enno Popkes versuchte vor dem Hintergrund einer geplanten Publikation mögliche Parallelen zum Lebensrückblick bzw. von NTE bei Platon, im Neuplatonismus (vor allem Plotin) und im frühen Christentum (Paulus) aufzuzeigen. Schilderungen eines Lebensrückblicks im eigentlichen Sinn gibt es in diesen Traditionen nicht, wohl aber Analogien zu bestimmten Aspekten von Nahtoderfahrungen und ihren „ethisch-biographischen Konsequenzen“, wie im Vortragstitel formuliert.
Mit vielen Textbeispielen der drei Bezugspersonen (Platon, Plotin und Paulus) stützte Prof. Popkes seine These, dass bei allen drei Persönlichkeiten Erfahrungen zugrunde liegen, die dem vergleichbar sind, was heute unter dem (inzwischen problematisch gewordenen) Begriff „Nahtoderfahrungen“ gefasst wird, vor allem wenn man sie primär als Erfahrung göttlicher Liebe und als Transformationserfahrung versteht.
Bei Platon finden sich für diese These keine direkten Hinweise - Prof. Popkes stützte sich bei seiner Argumentation einerseits auf die ausführliche Schilderung einer Nahtoderfahrung in Platons „Staat“, zum anderen auf das Höhlengleichnis und die verschiedenen Jenseitsmythen, die auf unterschiedliche Weise von einer seelischen Erkenntnisfähigkeit bzw. Postexistenz ausgehen.
Plotin schildert demgegenüber ganz direkt und offen eigene „spontane Transzendenzerfahrungen“, deren Parallelen zu bestimmten Aspekten von Nahtoderfahrungen recht offensichtlich sind.
Besonderer Schwerpunkt war dann das Damaskus-Erlebnis des Paulus, das der Referent als eine spontane Erfahrung deutete, die viele Ähnlichkeiten mit den Kernaspekten von Nahtoderfahrungen hat, vor allem was den Stellenwert der Liebe angeht sowie die transformatorische Wirkung dieser Erfahrung für Paulus.
Auf dieser Grundlage formulierte Prof. Popkes einen Appell an Theologie und Kirche, sich für ein besseres Verständnis ihrer eigenen Quellen und Anfänge der wissenschaftlichen Erforschung von NTE zu stellen.
Am Abend folgte ein Beitrag von Dr. Andreas Thalacker, Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapie. Er sprach über zwei Nahtoderfahrungen, die er als junger Mann (mit 23 und 24 J.) hatte. Die erste war eine außerkörperliche Erfahrung, nachdem er mit einer kurzzeitigen Halbseitenlähmung und der Unfähigkeit zu atmen aufwachte. Er sah seinen Körper von außen auf der Matratze liegen und fühlte dabei eine große Gelassenheit und Erhabenheit, war durchdrungen von der Größe allen Seins, war unmittelbar Teil von diesem Sein, fühlte so etwas wie eine ‚Urheimat‘, eine zarte Ahnung von der wunderbaren Verbundenheit von allem Sein.
Diese Erfahrung brachte er mit Platons Welt der Ideen in Verbindung, einer geistige Dimension allen Seins, nach der man sich sehnt und von der man nicht getrennt sein möchte – diese Sätze waren wie eine erfahrungsmäßige Ergänzung zu den Ausführungen des Vorredners Prof. Popkes zu Platon. Er erwähnte auch das Platonische Höhlengleichnis als treffendes Bild für inneres Wissen, verglichen mit dem Alltagsbewusstsein.
Die zweite Erfahrung spielte sich in ca. 2 Sekunden ab, während eines Absturzes bei einer Gletscherüberquerung – ähnlich wie bei dem bekannten Fall des Schweizer Geologen Albert Heim, veröffentlicht im Jahr 1881. Dr. Thalacker hatte während dieser kurzen Zeit einen Lebensrückblick – sein Leben spielte sich nochmals wie vor einem inneren Auge vor ihm ab. Zugleich vermittelt sich ihm eine Art Gewissheit, dass wir am Rande von etwas wirklich Großartigem leben und Teil davon sind.
Es blieb so etwas wie eine transzendentale Sehnsucht in ihm bestehen, welche sein weiteres Leben begleitete, und eine Ahnung der Tiefe unseres Hierseins.
Am Samstag folgten zwei weitere Vorträge.
Prof. Alexander Lohner sprach über „Die Todesthematik in der Existenzphilosophie im Lichte der Nahtoderfahrungen“. In einem weiten Verständnis der Bezeichnung „Existenzphilosophie“ gehören dazu Persönlichkeiten mit extrem unterschiedlichen Welt- und Menschenbildern, von christlichen Denkern (Marcel, Wust) über transzendenzoffene (Jaspers, Heidegger) bis hin zu atheistischen /nihilistischen Denkern (Camus, Sartre).
Auf Jean-Paul Sartre ging Prof. Lohner zum Schluss seines Vortrags besonders ein und stellte hier den Bezug zum Tagungsthema her – die Lebensrückblicks-Erfahrungen widersprechen ganz deutlich der pessimistisch-nihilistischen Sichtweise Sartres von Leben und Sterben. Für Sartre gewinnt der Mensch seinen Lebenssinn nur durch in die Zukunft gerichtete Erwartungen – im Augenblick des Sterbens hat das ein Ende und damit verfällt das ganze Leben in Sinnlosigkeit und Absurdität. Demgegenüber zeigen die Erfahrungen des Lebensrückblicks gerade durch die Perspektive „zurück“ eine sinngebende Kraft, vor allem auch durch das starke Gefühl des Geliebtwerdens und Angenommenseins.
Es folgte der Vortrag von Elisa Ruschmann: „Der Lebensrückblick in Nahtoderfahrungen und in der Psychotherapie – Selbsterkenntnis als gemeinsames Merkmal.“
Zunächst unterschied sie (mit David Lorimer) zwischen „Panorama-Erinnerung“, bei der die Gefühlsbeteiligung gering ist oder fehlt und „Lebensrevision“, wobei der Erlebende an dem Geschehen innerlich teilnimmt und die Folgen moralisch bewegt. So lassen sich die verschiedenen Berichte von Lebensrückblick auf einem Kontinuum hinsichtlich Reichhaltigkeit des Gehalts und der Bedeutungstiefe für den Erlebenden anordnen.
Sukzessive erläuterte sie die verschiedenen beteiligten Funktionen oder Instanzen, um diese Unterschiede zu veranschaulichen. Symbolisiert wurde das durch ein Tau, das zunächst nur mit zwei Strängen beginnt – Symbol für Wahrnehmung und Denken. Dann kommt die Befindlichkeit hinzu, das Gefühl und das Spüren. Es folgt der Bezug auf die Motive und Willensimpulse und auf dieser Basis die Erschließung der persönlich werthaften Bedeutung für den Erlebenden.
Weiterhin wurde mit Hilfe der Prozess-Skala (Carl Rogers) die unterschiedliche Art der Reflexivität in Bezug auf die eigenen Erfahrungen charakterisiert.
Als eine zentrale Komponente einer vertieften Selbsterkenntnis wurde dann das Element „sich mit den Augen der anderen sehen“ beschrieben (E.F. Schumacher), ein Vorgang, der in den reichhaltigen und tiefen Formen des Lebensrückblicks bei NTE sehr deutlich ausgeprägt ist. Auch die Unterscheidung von „kleinem Ich“ und „größerem Selbst“ bzw. „tieferem Ich“ findet sich in einigen Berichten zum Lebensrückblick. Im Vortrag wurden die Parallelen zu vergleichbaren Vorstellungen in der Psychotherapie (Carl Rogers) und der östlichen Philosophie (Konzept der fünf Selbst in der Taittirîya-Upanishad) aufgezeigt. Im Menschenbild der Taittirîya-Upanishad ist die Qualität der Liebe in unserem innersten Selbst verankert.
Im zweiten Teil wurden Formen der „Lebensrückblickstherapie“ vorgestellt, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben und die konstruktive Kraft einer Reflexion des eigenen Lebens nutzt. Betont wird u.a. die Bedeutung einer konstruktiven Begleitung, mit einem „barmherzigen, freundlichen Blick“ (Verena Kast). So wird deutlich, dass gerade unter dem Aspekt der Selbsterkenntnis und des konstruktiven Umgangs mit der eigenen Geschichte Parallelen zwischen den Erfahrungen von NTE und den Vorgehensweisen und Ansätzen mancher psychotherapeutischer Verfahren und Richtungen bestehen, die auch für die Verarbeitung von NT-Erfahrungen nutzbar gemacht werden können. Gemeinsames Merkmal für beide ist die Selbsterkenntnis als ein Prozess des sich Erfahrens: Beginnend beim Sensorischen, über den Umgang mit Gefühlen bei mir und anderen und Ausrichtung auf persönlich wertvolle Qualitäten, wie Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Hingabe und Liebe. Liebe, die sich öffnet zu mir selbst, zum anderen Menschen und zur Transzendenz, zum Göttlichen.
Am Nachmittag wurden von den Referentinnen und Referenten Arbeitskreise angeboten.
Am Sonntagmorgen folgten die letzten beiden Vorträge.
Dr. Heiner Schwenke sprach zum Thema „Lebensrückblick, Perspektivenwechsel, Empathie“. Dabei beschrieb er den Perspektivenwechsel im Lebensrückblick als ein unmittelbares Teilhaben am Erleben des anderen, nicht nur als bloß gedankliches Hineinversetzen in das Erleben des anderen. Das widerspricht in gewisser Hinsicht dem Menschenbild der neuzeitlichen Philosophie und Psychologie, nach der die Innenwelten der Individuen voneinander abgetrennt sind. Nur das eigene Erleben ist uns demnach unmittelbar zugänglich, das der anderen Menschen müssen wir erschließen.
Für Dr. Schwenke bietet dieses Erfassen des Erlebens des anderen („Perspektivenwechsel“) in Berichten über die Lebensrückschau noch eine zu schmale Basis, um ein neues Modell des Zugangs zum Erleben des anderen zu entwickeln, deshalb bezog er weitere Formen des Perspektivenwechsels im Sinne eines „Eintauchens“ in das Erleben anderer mit ein. Dazu gehören telepathische Erfahrungen, bei denen Informationen über eine andere, räumlich entfernte (lebende) Person gewonnen werden. Andere Erfahrungen berichten von Begegnungen mit „transzendenten Personen“ (Verstorbenen oder Geistwesen).
Daraus schloss der Vortragende, dass die Grenzen zwischen Personen zumindest zeitweise durchlässig sind, so dass eine unmittelbare Teilhabe am Erleben anderer möglich ist.
Manche Menschen mit NTE entwickeln ein Bewusstsein „der Verbundenheit und Einheit von allem“, und auf dieser Grundlage gibt es Ansätze zu einer „Ethik der Verbundenheit“ da wir alle Teil eines einzigen, großen, lebendigen Universums sind.
Der Vortrag von Dr. Joachim Nicolay hatte den Titel: „Partnerschaft und Sexualität im Spiegel der Lebensrückblicke.“ Er wies darauf hin, dass in den Berichten zum Lebensrückblick das Thema Partnerschaft und Sexualität relativ selten angesprochen wird. Dennoch gibt es einige Texte, die wertvolle Impulse für diesen Themenbereich enthalten.
Als Einleitung wies Dr. Nicolay auf die sog. „sexuelle Befreiung“ in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hin. Sie war ‚erfolgreich‘ in dem Sinn, dass sie Sexualität von den sie umgebenden Schuldgefühlen befreit hat. Andererseits kann bei einem Ausleben von Sexualität der Beziehungsaspekt in den Hintergrund treten.
Am Beispiel des Lebensrückblicks von Howard Storm wurde dieser Aspekt deutlich: Storm erkannte dabei, dass er Liebe mit Sexualität gleichgesetzt hatte. Aus dieser Perspektive wurde ihm deutlich, wie wichtig es ist, dass Sexualität in eine Beziehung integriert ist, als Ausdruck der Liebe zwischen den Partnern.
Mit weiteren Beispielen aus Lebensrückblicken wurden dann drei Aspekte erläutert, die für den Umgang in einer Beziehung bedeutsam sein können:
1. Präsenz statt geistiger Abwesenheit,
2. Unterstützung statt Dominanz,
3. gewaltfreie Kommunikation statt verbaler Kleinkrieg.
Im letzten Teil des Vortrags versuchte Dr. Nicolay, das Thema der Partnerschaft in einen größeren, spirituellen Kontext zu stellen. So formulierte Howard Storm, dass Gott uns den Partner gibt, damit wir lernen, wie man liebt – das ist unsere Aufgabe. Die spirituelle „Begründung“ dafür ergibt sich aus dem Bezug zum göttlichen Ursprung – die Liebe wird als das „göttliche Erbe“ im Kern des menschlichen Wesens betrachtet.
Aus dieser Perspektive ist die Bedingungslosigkeit der Liebe zentrale Leitidee. Dieses Ziel kann in einer Partnerschaft u.U. erst in einem langwierigen und teilweise auch schwierigen Weg erreicht werden. Dabei wird das Leben selbst unser „Lehrmeister“ – das erweist sich insbesondere im Umgang mit Schicksalsschlägen. Ein Beispiel zeigte, dass gerade in extrem schwierigen und belastenden Situationen die Liebe in ihrer tiefsten Form sich entwickeln kann. Das führt Menschen an eine Grenze, die dann einen Durchbruch zum eigenen Wesen, zum tieferen Selbst, ermöglichen kann.
Elisa und Dr. Eckart Ruschmann (im August 2016)