Der psychologische Aspekt der Nahtodforschung bezieht sich auf die Nachwirkungen der Erlebnisse. Schon Raymond Moody in den USA und Johann Christoph Hampe in Deutschland hatten beobachtet, dass Menschen nach einer Nahtoderfahrung  (NTE) oft von einem Verlust der Angst vor dem Tod sprachen.

Zu Beginn der 80er Jahre führte der Psychologieprofessor Kenneth Ring eine erste systematische Studie durch. Er stellte fest, dass neben dem Verlust der Angst vor dem Tod ein Hauptaspekt der Veränderungen, die sich infolge einer Nahtoderfahrung einstellen, in der Verschiebung von Wertprioritäten liegt. Vor allem soziale Einstellungen -  Verständnis, Mitgefühl, Akzeptanz und Toleranz gegenüber anderen Menschen sowie die Bereitschaft, anderen zu helfen - nehmen zu, während das Streben nach Prestige und materiellen Dingen eine Minderung erfährt. Menschen mit Nahtoderfahrungen sind darüberhinaus sehr an persönlichem Wachstum und spirituellen Werten interessiert. In den Augen von Ring unterstreichen die Nachwirkungen den spirituellen Charakter der Erlebnisse

Rings Befunde wurden durch weitere Untersuchungen bestätigt. Besonders aufschlussreich ist die Langzeitstudie, die Pim van Lommel in den Niederlanden durchführte. Er befragte 344 Patienten, die alle klinisch tot waren und reanimiert worden waren. Von ihnen berichteten 18 % über eine Nahtoderfahrung. Sie wurden zwei bzw. 8 Jahre später erneut interviewt. Parallel dazu wurde eine Kontrollgruppe von Patienten interviewt, die auf Grund eines Herzstillstandes ebenfalls klinisch tot gewesen waren, aber keine Nahtoderfahrungen hatten. In der NTE-Gruppe ergab sich folgendes Bild: Positive Veränderungen waren nach 8 Jahren stärker ausgeprägt als nach zwei Jahren. Das verweist nach van Lommels auf einen kontinuierlichen Veränderungsprozess. Verglichen mit Menschen ohne Nahtoderfahrungen (d.h. die Kontrollgruppe) ergab sich eine signifikante Zunahme des Selbstwertgefühls und des Vertrauens in die Zukunft. Die Meinung, die andere von einem haben, war weniger wichtig geworden. Die Werteverschiebung zeigte sich darin, dass sich der Stellenwert eines hohen Lebensstandards  stark vermindert hatte. Das Interesse an Spiritualität war erheblich gewachsen, während es in der Kontrollgruppe sogar abgenommen hatte.

Zu den neueren deutschen Untersuchungen, die die Nachwirkungen als Schwerpunkt haben, zählen die Arbeiten von Iris Gresser, Angela Stechl und Petra Permanschlager. Die an der Uni Salzburg vorgelegte Diplomarbeit von Angela Stechl bezieht 212 Fälle ein, von denen 20 von ihr selbst gesammelt wurden, während ihr die übrigen von Michael Schröter-Kunhardt zur statistischen Auswertung überlassen wurden.

Probleme der Integration der Erfahrungen

Die Nachwirkungen werfen ein Licht auf den spirituellen Charakter der Erfahrungen. Vor diesem Hintergrund müssen auch die Probleme gesehen werden, die mit einer Nahtoderfahrung verbunden sein können. Sie sind Ausdruck einer spirituellen Krise. Die Symptome dieser Krise sind vielfältig. So empfinden manche Menschen nach der Wiedererlangung des Bewusstseins Schuldgefühle. Ihnen macht zu schaffen, dass sie ohne einen Gedanken an ihre Angehörigen zu verschwenden, in der anderen Welt bleiben wollten. „Es war ein schrecklicher Gedanke, dass ich mein eigenes Wohl beinahe über das von anderen gestellt hätte. Trotzdem hätte ich riesig gerne weggewollt“, sagte ein Betroffener.

Wer eine tiefe Nahtoderfahrung gemacht hat, dem kann es schwer fallen, die Rückkehr ins Alltagsleben zu akzeptieren. Eine starke Sehnsucht nach der Welt des Lichtes kann sich einstellen, in der man Ganzheit, vollkommenes Glück und absolute Liebe erfahren hat. Manche sprechen von einer Art „Todessehnsucht“. Nur vor dem Hintergrund eines tief empfundenen Verlustes kann man verstehen, dass die Reaktion der Menschen auf ihre Rückkehr mit den klinischen Symptomen einer Depression oder Anpassungsstörung einhergehen kann.

Andere Probleme kommen hinzu. Die Verschiebung der Wertprioritäten führt dazu, dass die Betroffenen ihre gewohnten Alltagsrollen, die nicht mehr den gleichen Stellenwert wie früher besitzen, und den bisherigen Lebensstil nicht länger fortsetzen können. Das wiederum hat Folgen für die Beziehungen. Angehörige und Freunde verstehen oft die Veränderungen nicht, die sie bei der betreffenden Person bemerken. Sie können den Eindruck bekommen, es mit einer ganz anderen Person zu tun zu haben. Scheidungen kommen häufiger vor als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Die Betroffenen selbst können die Veränderungen, die sie bei sich feststellen, nicht recht einordnen. Wenn sie jedoch bei Psychotherapeuten oder Seelsorgern Hilfe suchen, stoßen sie oft auf Unverständnis. Viele therapeutisch oder seelsorgerisch Tätige wissen zu wenig über die Bedeutung und die Nachwirkungen von Nahtoderlebnissen. Wer als Nahtoderfahrener Hilfe für die Bewältigung seiner Probleme sucht, braucht einen Therapeuten oder Seelsorger, der den spirituellen Hintergrund der Erfahrungen kennt und zu würdigen weiß. (Vgl. Nicolay 2012) Psychotherapeuten können nur erfolgreich sein, wenn sie nicht gegen die spirituelle Dynamik arbeiten, sondern sie einbeziehen und als Ressource für Transformationsprozesse nutzen. Das Netzwerk-Nahtoderfahrung ist bei der Suche nach geeigneten Therapeuten behilflich.

Nahtoderfahrungen von Kindern

In einer noch schwierigeren Situation als Erwachsene befinden sich manchmal Kinder, wenn sie eine Nahtoderfahrung hatten. Für diese Vermutung sprechen die Ergebnisse einer  Befragung, die die NTE-Forscherin Phyllis Atwater durchführte. An der Befragung hatten sich 52 Personen beteiligt, die als Kinder eine Nahtoderfahrung gehabt hatten. Im Vergleich mit Menschen, die als Erwachsene eine Nahtoderfahrung hatten, berichteten diese Personen gehäuft über Alkoholmissbrauch und Depressionen in den Jahren nach ihrem Erlebnis. Besonders alarmierend war die Zahl der Suizidversuche. Für Kinder kann sich die Aufgabe, eine Nahtoderfahrung in die Alltagswelt zu integrieren, als unlösbar darstellen. Das gilt vor allem dann, wenn ein verständnisvoller Ansprechpartner fehlt.

Weitere Informationen vgl. auch:

Hilfen bei der Integration

Die Nachwirkungsstudien verweisen auf das Transformations-, aber auch das Gefahrenpotenzial, das in den Erfahrungen steckt. Deshalb kommt der Frage, wie die Integration der Erlebnisse in das Alltagsleben und das eigene Selbstverständnis gelingen kann, eine große Bedeutung zu. Die australische Soziologin Cherie Sutherland hat analysierte, welche Faktoren den Verlauf  des Integrationsprozesses bestimmen. Sie hat festgestellt, dass solche Prozesse sehr rasch verlaufen, oder -  je nach den Umständenblockiert sein bzw. diskontinuierlich mit großen zeitlichen Verzögerungen stattfinden können. Zu den Faktoren, die die Integration einer Nahtoderfahrung verhindern oder verzögern können, zählen beispielsweise Situationen einer besonders starken  beruflichen oder familiären Beanspruchung. Sie führen dazu, dass für die Beschäftigung mit dem Erlebnis keine Kraft und keine Zeit bleibt. Eine Schlüsselrolle spielt die Frage, ob man Ansprechpartner findet, mit denen man über das Erlebte und die Nachwirkungen sprechen kann. Wenn die Betroffenen bei den Personen, denen sie sich mitteilen, auf Verständnis und Akzeptanz stoßen, kann die Erfahrung besser und schneller ihre positive Wirkung entfalten. Das ist nach Meinung Sutherlands allerdings nur selten der Fall. In westlichen Gesellschaften, schreibt sie, träfen die Menschen häufig auf Ablehnung und Unverständnis. Das erschwere einen konstruktiven Umgang mit der Erfahrung. Positiv wirkten sich andererseits Informationen aus Büchern, Zeitschriften usw. aus, die es den Betroffenen ermöglichen, die eigene Nahtoderfahrung in einen größeren Kontext einzuordnen. Als wertvoll stuft sie auch Zusammenschlüsse, also Gruppen ein, in denen sich  Menschen mit Nahtoderfahrungen treffen.

Solche Gruppen existieren in Deutschland z. B. in München, Augsburg und Leipzig.

(Autor: Joachim Nicolay)

Literaturhinweise

Atwater, Ph., Children of the New Millennium. Three Rivers Press New York 1999

Gresser I., Psychologische Auswirkungen von Nah-Todes-Erfahrungen. Logos Verlag Berlin 2004

Nicolay, J., Nahtoderfahrungen in der Psychotherapie. In: Impulse für das Leben ausNahtoderfahrungen. Santiagoverlag Goch 2012

Permanschlager P., Nahtoderfahrungen und ihr transzendent psychisch-spirituelles Transformationspotenzial. (Unveröffentlichte Diplomarbeit). Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg 2007

Ring K.,  Den Tod erfahren –das Leben gewinnen. Scherz Verlag Bern 1984

Stechl A., Nah-Todeserlebnisse und ihre Auswirkungen auf Psyche, Ethik und Religiosität/Spiritualität. (Unveröffentlichte Diplomarbeit).Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Salzburg 2006/07

Sutherland C., Reborn in the Light. Bantam Books New York 1992

Van Lommel P., Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung. (4. Aufl.), Patmos 2011

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